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Kastration beim Rüden – ist das wirklich nötig?

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abt ihr auch einen Rüden zu Hause? Dann wisst ihr sicher, wovon ich gleich schreibe. Viele Hundebesitzer stehen irgendwann vor einer der wohl am heißesten diskutierten Fragen: Kastrieren oder nicht? Ich bin da keine Ausnahme und schwanke immer noch. Eigentlich begann das Wochenende ganz entspannt: Herbstsonne, Zeit im Gepäck und die morgendliche Ruhe, bei der man sogar in Berlin die Vögel hört. Niko läuft in der Stadt nicht ohne Leine – zu abgelenkt und verspielt, sobald er andere Hunde wittert. Wenn wir es mal nicht in den Wald schaffen, gibt es aber auch in unserem Viertel ein paar Plätze, wo er sich austoben kann. An diesem Morgen ging’s auf eine kleine Wiese im Hinterhof. Niko spielte begeistert mit zwei anderen Rüden – bis er eine Hündin am Rand entdeckte. Keine Chance, ihn zurückzurufen: Er sprintete direkt los. Kein Wunder, denn die schwarze Labradorhündin war läufig. Zurück an der Leine beruhigte er sich schnell, doch kaum war sie außer Sicht, täuschte er kurz an und rannte ihr erneut hinterher. Mein Morgen war nach diesem Workout jedenfalls vorbei.

Der richtige Zeitpunkt

Mit seinen 18 Monaten steckt Niko mitten in der Geschlechtsreife und ist den Reizen der Damenwelt erlegen. Der Grund: Er ist nicht kastriert. Als ich Niko im vergangenen Sommer aufgenommen habe, war er mit seinen sechs Monaten für eine Kastration viel zu jung. Dafür bin ich der Tierschutz-Organisation immer noch dankbar. Eine Kastration greift unwiderruflich in das komplexe Hormonsystem des Hundes ein. Welche Macht Hormone haben, können wir auch an uns selbst immer wieder beobachten. Werden Hunden also frühzeitig die Sexualhormone genommen, hat das nicht nur einen erheblich Einfluss auf ihr Verhalten und ihre Reife, sondern auch auf ihre körperliche Entwicklung wie das Längenwachstum, den Muskelaufbau und auch die Stabilität ihrer Knochen. In den letzten Monaten habe ich an Niko viele Entwicklungsschübe beobachten können, die vielleicht oder mit Sicherheit beim Griff zum Skalpell nicht möglich gewesen wären. Allein das Gehirn baut sich regelrecht um und bildet viele neue Synapsen. Ja oder nein? Und vor allem warum? Für Tierärzte ist der Eingriff echte Routine und die am häufigsten durchgeführte OP in deutschen Praxen, aber dennoch keine Pauschalbehandlung und aus rechtlicher Sicht keineswegs unbedenklich! Denn laut deutschem Tierschutzgesetz ist die vollständige oder teilweise Amputation von gesunden Körperteilen in §6 verboten. Zwar ist eine solche Amputation (in diesem Falle Kastration) zur Verhinderung unkontrollierter Fortpflanzung erlaubt, aber jeder Halter sollte in der Regel verantwortungsvoll mit seinem Gefährten umgehen und ihn quasi immer Blick haben.

Wenn die Damenwelt zu sehr lockt

Schon kilometerweit gegen den Wind wittern Rüden eine läufige Hündin. Seit einigen Tagen fällt mir häufiger auf, wie Niko auf unseren Spaziergängen Fährten aufnimmt bzw. sich richtig festschnüffelt. Momentan versuche ich Plätze, unter anderem auch diese Wiese, zu meiden. Aber aufgrund der „Saison“ gestaltet sich das gerade ein wenig schwierig und ein Freilauf ist für den Augenblick gestrichen. Gegen diesen biologischen Trieb komme ich einfach nicht an. Jedenfalls noch nicht! Denn ich bin auf der Suche nach einem effektiven Training. Weiteres Manko: Auch nach einer Kastration, insbesondere wenn sie nach der Geschlechtsreife erfolgt, ist der Rüde den Reizen einer Hundedame nicht unbedingt abgeneigt. Die Ausreißgefahr bleibt also bestehen! Trotz Einstellung der Samenproduktion und einem gesenkten Testosteronspiegel bleibt die Sexualität erhalten, wenn auch vermindert.

Lösung für Verhaltensprobleme?

Niko ist ja recht pflegeleicht – ein Charmeur, der es faustdick hinter den Ohren hat, aber weder aggressiv noch ängstlich. Doch besonders Tierschutzhunde haben oft eine weniger schöne Vergangenheit und so manches Päckchen mit sich zu tragen.

Viele Halter suchen mit dem Gang zum Tierarzt eine Lösung, die aber auf keinen Fall garantiert ist. Zugegeben kann eine Kastration dominantes und aggressives Auftreten gegenüber Artgenossen dämpfen. Dennoch trägt der Mensch als allererstes die Verantwortung für solche Verhaltensweisen. Ich möchte an dieser Stelle nicht den moralischen Zeigefinger heben und mache auch nicht alles richtig, aber zumeist findet sich der Ursprung in fehlender oder fehlerhafter Führung durch den „Rudelchef“. Mangelnde Beschäftigungsalternativen, zu wenig Auslauf oder eingeschränkte Sozialkontakte verstärken diese Symptomatik. Bis es durch angestauten Frust zu einer emotionalen Entladung kommt, ist quasi nur eine Frage der Zeit.

Ob eine Kastration die unvermeidliche Notlösung ist, lasse ich hier mal dahingestellt. Jeder sollte sich aber im Klaren sein, dass viele Probleme erst einmal durch gezielte Trainings angegangen werden sollten und auch ein operativer Eingriff ein nachgelagertes Training verlangt.

Der Gesundheit zuliebe

Verantwortung für einen Hund zu übernehmen, heißt für mich auch, das Bestmögliche für seine Gesundheit zu tun. Mit Niko gehe ich nicht nur aufgrund seiner damaligen Ehrlichiose-Erkrankung zu regelmäßigen Routinechecks. Abgesehen von Infektionen oder Verletzungen haben Krebserkrankungen unter Hunden stark zugenommen. Auch hier streiten sich die Gemüter, ob sich die Kastration als Krebsprävention lohnt. Insbesondere bei Hündinnen steht dieser gesundheitliche Aspekt stark im Vordergrund. Häufig werden diese bereits vor ihrer ersten Läufigkeit kastriert, um zum Beispiel Gesäugetumoren vorzubeugen. Nach früheren wissenschaftlichen Untersuchungen steigt ein Erkrankungsrisiko nach der ersten Läufigkeit um ein Vielfaches. Übertragbar ist dies bei Rüden auf Prostataprobleme. Inwieweit diese Erkenntnisse noch aussagekräftig sind, ist – zumindest nach meiner Recherche – strittig. Auch unsere Familienhunde sind damals an Krebs gestorben. Natürlich möchte Niko eine gute Lebensqualität ermöglichen, aber zu welchem Preis? Denn es mehren sich eindeutige Hinweise, dass eher ein zu proteinreiches Futter und dazu überhöhtes Körpergewicht (vor allem im ersten Lebensjahr) sowie das häufige Unterdrücken von Läufigkeitszyklen durch Zugabe von Hormonen (bei Hündinnen) die Entstehung von Tumoren begünstigen.

Wie Ihr seht, gibt es genügend Punkte, die dafür oder dagegen sprechen. Grob zusammengefasst lassen sich folgende Für- und Widersprüche aufzählen: (Ich weise an dieser Stelle aber noch einmal darauf hin, dass diese Auflistung auf einer Recherche beruht. Es sollte grundsätzlich immer der Rat eines Fach-Experten herangezogen werden!)

Vorteile ↘︎

– Eingestellter bzw. verminderter Sexualtrieb und dadurch größere Ausgeglichenheit

– Kein ungewollter Nachwuchs und keine Scheinschwangerschaften

– Kein bzw. verminderter Markierungsdrang bei Rüden

– Vermeintlich verbesserter Umgang mit gleichgeschlechtlichen Artgenossen

Nachteile ↘︎

– Allgemeines Risiko beim operativen Eingriff inklusive Infektionsrisiko

– Verändertes Knochenwachstum

– Auswirkungen des veränderten Hormonhaushaltes auf die Organe

– Mögliche Inkontinenz

Die Sache mit dem Chip

Wer eine OP vermeiden will, dem steht mittlerweile auch eine Alternative zur Wahl: eine Art chemische Kastration durch einen eingesetzten Chip. Ich gebe zu, mit diesem Gedanken auch schon gespielt zu haben. Laut Tierarzt ließe sich in einem Zeitraum von drei bis sechs Monaten simulieren, wie sich der Fellfreund verhält, wenn die Sexualhormone unterdrückt werden. Inwiefern sich eine solche Kurzzeitstudie tatsächlich auf langfristige Auswirkungen übertragen lässt, bin ich mit mir noch ziemlich uneins – mal abgesehen von den Kosten der Behandlung.

 

Schlussendlich ist ein Hund immer noch ein gleichwertiges Lebewesen mit einer eigenen Persönlichkeit. Zugunsten eines besseren Handlings an eben diesem herumzudoktern, fühlt sich für mich nicht richtig an. Verhaltensweisen wie Revierverteidigung oder Futterneid sind ja nicht sexuell motiviert und durch kontinuierliches und ebenso ernsthaftes Training in den Griff zu bekommen. Hunde mit Angstaggressionen beispielsweise reagieren nach Kastration häufig noch aggressiver, weil ihnen dann die auch Angst mindernd wirkenden Sexualhormone fehlen.

Genau wie bei uns Menschen haben auch Hunde ganz persönliche Charakterzüge, die einfach in die Wiege gelegt sind und akzeptiert werden sollten.