Bevor es zu spät ist – Wo fängt Verantwortung an?
Chico ist momentan Deutschlands bekanntester Hund. Nein, er ist kein sogenannter Petfluencer mit beliebtem Facebook-Profil und Scharen von Insta-Followern. Und nein, er kann auch nicht seinen Namen tanzen (behaupte ich mal unbekannterweise). Er hat zwei Menschen auf dem Gewissen, seine beiden Menschen.
Ein Aufschrei ging durch die Medien: „Kampfhund“, „Killer-Hund“ oder sogar von „Waffe“ war die Rede. Eine Tierärztin versucht, seine Übersprungshandlung zu erklären. Andere wiederum mutmaßen über die tatsächliche Schuld des Hundes, denn er soll ja kein Blut an seinem Körper gehabt haben. Jeder hat eine Meinung und Medien greifen dankbar um sich. Denn Chico ist kein unbeschriebenes Blatt. Bereits vor ein paar Jahren soll er auffällig geworden sein. Nachhaltig Hilfe hatte der Staffordshire-Terrier-Mix aber seinerzeit nicht bekommen. Weder von behördlicher Seite noch von Außenstehenden oder aus der Familie. Denn Mensch schaut halt auch gerne weg. Wie sonst ist es zu erklären, dass er trotz Anzeige beim Veterinäramt einfach so vom Radar verschwand?
Was konkret Chicos Beißattacken auslösten, wird niemand sagen oder erahnen können. Fakt ist, dass der Rüde dafür womöglich einen sehr hohen Preis zahlen wird. Einen Preis, den er meines Erachtens nicht zu verantworten hat. Denn weder Mensch noch Tier werden als gut oder böse geboren. Vielmehr tun das direkte Umfeld, gute und schlechte Erfahrungen nachhaltig ihr Übriges für Persönlichkeit und Verhaltensmuster.
Wo fängt Verantwortung an?
Ganz einfach – schon lange, bevor der Vierbeiner in seinem neuen Zuhause einzieht. In der Berichterstattung war zu lesen, dass Chico als Schutz vor dem gewalttätigen Vater angeschafft wurde. Ist das ein richtiges Motiv, einen Hund in den Familienkreis aufzunehmen? Denn ohne Frage, sollte Chico einen bestimmten Zweck erfüllen und wurde – mutmaße ich – für diesen Zweck auch erzogen beziehungsweise trainiert. Eine Büchse der Pandora. Ähnlich der Frage, ab wann zum Beispiel ältere Menschen das Steuer ihres Autos lieber aus der Hand geben, offenbart sich hier ein grundsätzliches Problem: Wann ist Mensch (sei es durch Alter, Krankheit oder anderer Gegebenheiten) nicht mehr optimal in der Lage, sich um dem ihm anvertrauten Vierbeiner zu kümmern, ein stabiles Umfeld sicherzustellen sowie langfristige Konsequenzen zu überblicken?
Vor ein paar Monaten traf ich mich mit einer Berliner Tierschützerin. Sie erzählte von einer Rentnerin, die einen Schäferhund adoptiert hatte und körperlich kaum in der Lage war, diesen zu halten, wenn er zu sehr an der Leine zog. Natürlich lässt sich Leinenführigkeit gut trainieren. Aber wer garantiert für die Sicherheit im Fall der Fälle? Ich bin kein Tierpsychologe, Hundetrainer und sonstiger Experte, um diese Fragen qualitativ wertvoll zu beantworten. Dafür sind ja die Experten da, die für solche Anliegen mit professionellem Rat zur Seite stehen, sei es etwa bei der Auswahl passender Rassen oder des jeweiligen Hundes selbst. Ein Angebot, das leider noch viel zu selten in Anspruch genommen wird.
Susanne von Stressless Dogs brachte es am vergangenen Wochenende ganz gut auf den Punkt: Heutzutage einen Hund in den Familienkreis zu holen, ist deutlich schwieriger als ein Haus zu kaufen. Seriöse Züchter und Tierschutzvereine nehmen im Vorwege die Kandidaten sehr genau unter die Lupe, bevor sie einem Kauf beziehungsweise einer Adoption zustimmen. Als ich mich für Niko beworben hatte, musste ich in einem mehrseitigen Fragebogen meinen normalen Tagesablauf skizzieren, um zu zeigen, dass Niko dort seinen Platz finden kann. Ebenso musste ich mögliche Betreuungspersonen angeben, die sich im Bedarfsfall um Niko kümmern. Und nicht zu vergessen: die Vor- und Nachkontrollen bei uns zu Hause. Sehr gründlich und auf Herz und Nieren geprüft. Sogar auf die Gefahrenquelle meines Balkons wurde ich hingewiesen (Anm.: Die Brüstung meines Balkons besteht aus Beton und lädt zum Hochspringen ein. Und da Niko nicht sieht, was außerhalb des Balkons vor sich geht, sondern nur die vielen Geräusche hört, ist das Risiko gegeben, dass er da aus Neugier einfach mal hochspringt). Zum Glück, denn daran hätte ich von allein nicht gedacht.
Wann greift das Sicherheitsnetz?
Das Schicksal des Staffordshire-Mixes spaltet die Gemüter. Sind sich einige sicher, dass dem Vierbeiner kein adäquates und vor allem sicheres Zuhause geboten werden kann und sich mit Sicherheit auch keine Trainer an den Hund herantrauen werden, organisieren andere Demonstrationen und Petitionen, um sein Leben zu retten. Musste es erst soweit kommen? Ganz bestimmt nicht! Ich bin mir ziemlich sicher, dass sich die zuständigen Personen im Veterinäramt bedingt durch den öffentlichen Druck dafür verantworten müssen. Aber damit ist Chico letztlich noch immer nicht geholfen.
Kommt es nämlich zu Beißereien oder anderen (schwerwiegenden) Zwischenfällen, schalten sich die Behörden schnell ein und überprüfen, ob eine Gefahr vom Tier aus. Je nach Einschätzung der Sachlage reichen die Maßnahmen von einer Anzeige bis zu Auflagen wie Leinen-Maulkorbzwang. Doch ist das nachhaltig genug, um schließlich auch dem Tier gerecht zu werden? Kann dem Halter aus Gründen keine Hundehaltungserlaubnis erteilt werden oder wird sich gegen die Auflagen widersetzt, ist die Behörde berechtigt, den Vierbeiner sicherzustellen. Aber ist es dann nicht schon zu spät? Die Hundetrainerin, die sich gestern in der HAZ zu Wort meldete, brachte das Wort „Kampfhund“ erneut auf den Tisch. Chico sei als Kampfmaschine abgerichtet gewesen. Ich frage mich an dieser Stelle, ob es nicht viel sinnvoller wäre, Hund und Halter parallel zum Feststellungsverfahren aktiv durch versierte Hundetrainer zu begleiten und an einer Lösung des Problems (das Verhalten des Tieres und die Einstellung des Halters) zu arbeiten. Das wäre auch endlich ein sinnvoller Einsatz für die Hundesteuer, die ansonsten ja gerne im Nirvana verschwindet.