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Berliner Stadtnatur

Auf den Spuren des wilden Berlins

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ie Stadt neu entdecken und in ihre wilden Geheimnisse eintauchen - voller Vorfreude und Spannung buchte ich vor ein paar Monaten eine Wildkräuterwanderung draußen am Rand von Berlin. Nach ein paar Terminverschiebungen war es nun endlich soweit. Doch anstatt das Umland im Süden Berlins zu erkunden, sollte die Suche nach den Kräutern mitten in Berlin starten. Kann es tatsächlich zwischen all den pulsierenden Straßen, Häuserschluchten und grünen Oasen noch verborgene Schätze geben? 

Sensible Stadtnatur

Berlin ist eine der Städte mit der größten Artenvielfalt in Europa und kann sich auch im Vergleich zu Seen- und Waldreichtum mit anderen Metropolen weltweit deutlich messen. Mehr als 42 Prozent der Landesfläche sind Wälder, Gewässer, Agrarflächen und öffentliche Grünanlagen. Die Stadt bietet uns zahlreiche Möglichkeiten, die Natur in ihren vielfältigen Ausprägungen zu erleben und sie in ihrem ganz eigenen Rhythmus zu beobachten. Und jetzt, wo die Nächte wieder länger werden und die Natur zur Ruhe kommt, können wir noch reichlich ernten.  

Wildkräuter sind aufgrund ihrer Ursprünglichkeit besonders robust und nährstoffreich. Anders als kultivierte Pflanzen enthalten sie noch viele wichtige Inhaltsstoffe, wie Bitterstoffe und Vitamine, Mineralien und den grünen Pflanzenfarbstoff Chlorophyll.

Was wir in der heutigen Zeit irgendwie vergessen haben: Das Gute liegt schon vor unserer Haustür. Wenn sich im Herbst die Sonne wendet und sich die Natur zurückzieht, schenkt sie uns ihre Früchte, die genau die Nähr- und Vitalstoffe in sich tragen, die unserem Körper in der entsprechenden Jahreszeit besonders wohltuend sind. Auf der Wildkräuterwanderung wollte ich wieder erlernen, unsere Umgebung mit offenen Augen zu erkunden und ihren Wert zu erkennen. Das vermeintliche Unkraut bei uns im Hinterhof erkenne ich nun als Melde, die sich gemeinsam mit Löwenzahn und Brennnessel ihre Nische gesucht hat. 

In einer wilden Natur vermehren und erhalten sich die Pflanzen selbst.

Wilde Natur lässt sich also auch in unserem urbanen Raum entdecken. Viele essbare Wildpflanzen wachsen unerkannt vor der Haustür, in den Hinterhöfen und Parks und selbst am Straßenrand.

Sammel-Knigge

Wo?

Unsere Wildkräuterwanderung führt uns über einen Parkplatz mitten in Berlin. Ich bin erstaunt, wieviele verschiedene essbare Pflanzen zwischen den Parkbuchten zu finden sind. In meinem Korb landen sie trotzdem nicht. Denn sie sollen möglichst frisch und unverschmutzt sein. Ideal sind wilden Wiesen oder Waldlichtungen, abseits von Straßenverkehr und konventioneller Landwirtschaft. Etwas weiter weg vom Wegesrand, wo sich gerne auch Hunde lösen. Und in der Stadt? Ein Geheimtipp, den uns Annika Krause von kruut* verrät, sind Friedhöfe oder verwilderte Parks. Alte Industriegelände, wie sie hier in Berlin häufiger zu finden sind, sollten aufgrund der Schwermetallbelastung lieber gemieden werden. 

Wann?

Der beste Zeitpunkt zum Sammeln ist mittags bei schönem Wetter. Idealerweise sollte es vorher trocken gewesen sein. Denn nach starkem Regen oder auch anhaltender Trockenheit sinkt der Wirkstoffgehalt in den Wildpflanzen. Annika Krause erklärt uns auch, nicht im Morgen- und Abendtau zu sammeln. Es gibt sogar unterschiedliche Zeitpunkte, die sich je nach Pflanze zum Sammeln mehr eignen. Die Blüten der Königskerze, erzählt sie, sollten gerne am frühen Vormittag in die Körbe wandern. Dann seien sie schon vollständig geöffnet; später sinke die Vitalität der Blüten. 

Wieviel?

Behutsam und in Maßen. Wildpflanzen sind kollektives Eigentum. Wir sollten daher nur die Menge ernten, die wir wirklich brauchen und gleich verwerten wollen. Da die wilden Pflanzen und Kräuter  viel aromatischer und reicher an Mineralien, Vitaminen und Bitterstoffen sind als Kulturpflanzen, brauchen wir von ihnen nur kleine Mengen. Als Faustregel gilt: höchstens ein Viertel der Pflanzen an einem Ort. Nur so kann sich der Bestand selbst erhalten. Pflanzen, die allein stehen, sollten also nicht geerntet werden. Baumblätter und Knospen werden von verschiedenen Zweigen genommen. Und bitte Hummeln, Bienen und andere Insekten nicht vergessen und genug für sie übrig lassen. 

Wie?

Frische Wildkräuter halten sich bis zu fünf Tage im Kühlschrank. Dafür müssen sie allerdings direkt nach dem Sammeln in ein feuchtes Tuch gewickelt werden. Bevor sie verarbeitet werden, am besten einmal, aber nicht übermäßig waschen. 

Die Verdauung muss sich an die Bitterstoffe aus den Kräutern erst einmal gewöhnen. Annika empfiehlt uns daher, zunächst mit kleineren Portionen anzufangen.  Für Teemischungen die Wildkräuter einfach als Sträuße aufhängen oder auf einem Leinentuch trocknen.

Safety first! Ist die Pflanze essbar oder nicht – hierzu im Zweifel immer den Rat einer fachkundigen Person einholen oder in einem Bestimmungsbuch nachschlagen.

Beifuß
Hagebutte
Melde
Spitzwegerich

Eine der ältesten, ganzjährigen Heilpflanzen. Die krautige Pflanze mit ihren langen lanzettförmigen Blättern kann bis zu 30 cm hoch werden. Ihr Wurzelwerk ist dicht verzweigt und reicht mitunter fast 60 cm in die Tiefe. Spitzwegerich ist sehr schleimlösend und daher auch in den meisten Hustenteemischungen enthalten.  Die Pflanze enthält Vitamin C, viele Gerb- und Schleimstoffe und reichlich Kieselsäure. Der Saft der Blätter wurde schon früher als Desinfektionsmittel benutzt, denn er wirkt antibakteriell und ist gut gegen Insektenstiche. Die Blütenköpfe schmecken nach Pilz und die Blätter lassen sich gut dünsten.

Giersch

Bis zu 40 cm hoch wächst der Giersch und blüht von Juni bis August in weißen Dolden. Durch ihre Rhizome ist sie sehr stark wuchernd und gilt – zu unrecht – als lästiges Unkraut. Die Pflanze liebt halbschattige und schattige Standorte und wächst gerne um Bäume herum. Ob roh oder gekocht, eignet sich Giersch als leckere Gemüsebeilage, denn er ähnelt dem Spinat und schmeckt leicht nach Petersilie. Giersch enthält sehr viel Vitamin C, Kalium, Karotin und Eisen. Ihn verwendet man bei Blasenentzündungen, Erkältungen, Durchfall und Rheuma.

Gundermann

Das kräftige Kraut lässt sich besonders häufig an den Rändern von Wäldern und Feldern finden. Gundermann ist ein idealer Entzündungshemmer und Schleimlöser. Besonders entzündungshemmend ist das Öl, das beim Zerreiben der Blätter austritt. Es hat einen würzigen, leicht minzigen Geschmack und wird auch wilde Petersilie genannt.

Malve

Die möglicherweise vom Balkan stammende mehrjährige Pflanze wächst aufrecht, kaum verzweigt, bis 3 Meter hoch und blüht von Mai bis Oktober in allen Pastelltönen. Das junge Kraut kann von März bis Juni als Blattgemüse, die Wurzel im Herbst und Winter als aromatisches Gemüse verwendet werden. Die Malve wird wegen der vielen Gerb- und Schleimstoffe in Teemischungen verwendet.

Melde

Das Kraut ist sehr häufig in Gärten (oder in Hinterhöfen) oder am Weges- und Straßenrand zu finden. Die Melde enthält viel Vitamin C – doppelt so viel wie Grünkohl, Phosphor und Calcium, Kalium und Magnesium. Die Knospen und Blütenstände lassen sich wie Brokkoli zubereiten. 

Hagebutte

Mal dunkelrot, mal orange, länglich oder kugelrund: Als Zitrone des Nordens wird sie uns auf der Wanderung vorgestellt. Reich an Vitamin C enthalten 100 g der Frucht bis zu 1.500 mg Vitamin C. Da können selbst Zitronen mit 53 mg pro 100 g nicht mithalten! Die echten Früchte sind die Kerne in den roten Schalen. Essbar sind das Fruchtfleisch und die Schale. Geerntet wird die Hagebutte von September bis Dezember; allerdings mitunter recht mühsam: Kratzer an den Armen und juckende Finger gehören oft dazu. Die Früchte sind reif, wenn ihre Farbe leuchtet und sie noch relativ hart sind. Werden sie weicher, verlieren die Früchte auch ihren Gehalt an Vitamin C. 

Königskerze
Gundermann
Nachtkerze
Königskerze

Früher wurde die Königskerze mit Teer oder Pech bestrichen und als Fackel verwendet. Heute schätzen wir das Kraut bei Husten und Heiserkeit. Die enthaltenen Schleimstoffe legen sich wie schützender Film über die Schleimhaut in Mund und Rachen. Und was mich ziemlich begeistert hat: Die Blätter der Königskerze wurden damals gerne zum Frischhalten von Lebensmitteln verwendet.

Brennnessel

Mit Abstand eines der besten heimischen Superfoods. Die ausdauernde Pflanze wird bis zu 2 m hoch. Sie bildet Rhizome und wuchert gerne, vor allem auf stickstoffreichen Böden und in sonnigen bis schattigen Lagen. Von März bis in den Herbst ergeben sich die jungen Triebe ein wohlschmeckendes Wildgemüse. Die Blätter enthalten sehr viele Mineralien wie Magnesium, Eisen, Silicium, die Vitamine A, C und E sowie Carotinoide. Sie liefert sogar mehr Eisen als ein Rindersteak! Und wirkt unter anderem entzündungshemmend bei rheumatischen Erkrankungen. Die Brennnessel ist auch eine wichtige Wirtspflanze für Schmetterlinge.

Pimpernelle

Der kleiner Wiesenknopf  zählt zu den Rosengewächsen und ist eine sehr pflegeleichte Pflanze, die sich selbständig vermehrt. Pimpernellen verfügen über eine dichte Blattrosette mit gezahnten, runden Blättern. Sie wird etwa 30 bis 50 cm hoch und bevorzugt einen kalkhaltigen, lockeren Lehmboden.

Geschmacklich erinnert die Pimpernelle an Gurken und passt sehr gut zu Salaten. Aber auch Marinaden und Saucen wie die legendäre Frankfurter Grüne Soße oder Kräuterquark verleiht die Pimpernelle eine besondere Note. Das Kraut ist zudem durch die enthaltene Gerbsäure blutstillend und wirkt schleimlösend und mit ihrem Kampferol und Vitamin C entzündungshemmend.

Löwenzahn

Diese weltweit verbreitete Pflanze wächst gerne auf nährstoffreichem Boden. Mit ihrer bis zu 2 m langen Pfahlwurzel ist Löwenzahn besonders zäh und wird bis zu 30 cm hoch. Von März bis Juni die jungen Blattrosetten als Salat oder Gemüse mit einer schönen Bitterste und chicoréeartigem Geschmack. Die Blütenknospen werden in Essig eingelegt oder gebraten als Gemüse. Die Blütenblätter eignen sich für Desserts oder Sirupe – sie sind süß und schmecken honigartig. Die Wurzeln sind ein schmackhafter Meerrettichersatz.

Hopfen

Hopfen wächst jährlich neu vom Boden aus schnell bis auf eine Höhe von 5 Metern. Die sich im Uhrzeigersinn windende Kletterpflanze gehört zur Familie der Hanfgewächse und hat dementsprechend auch hanfähnliche, behaarte Blätter. Junge Sprossen im März und April ergeben ein delikates Gemüse mit fein harzigem Geschmack.

Wildkräuter zu Hause? So geht’s.

Wildkräuter sind äußerst anpassungsfähig. Dennoch haben sie wie jede andere Pflanze auch ihre ganz eigenen Bedürfnisse um zu gedeihen. Damit eine Anzucht zu Hause gelingt, kommt es auf den richtigen Standort und Boden an. Bevorzugt das Kraut es lieber sonnig oder schattig? Sollte die Erde eher luftig, sandig, lehmig sein? Übrigens fühlen sich die meisten Wildkräuter in nährstoffarmer Kräutererde wohl.

Im Garten. 

Wer einen Garten besitzt, hat ganz bestimmt schon das eine oder andere Kraut zwischen den Beeten stehen. Denn gerne breiten sich Melde und Giersch aus. Für etwas mehr Ordnung (oder besser Überblick) lässt ein bestimmtes Kräuterbeet oder eine Ecke im Garten anlegen, wo die Natur einfach sein darf. Allerdings sind die meisten Wildkräuter sehr wachstumsfreudig. Daher zuerst schauen, was im Garten bereits wächst und gut überlegen, welche Pflanzen noch hinzukommen sollen.  

Im Kübel.

Auch auf dem Balkon lassen sich Wildkräuter gut anpflanzen, entweder im eigenen Kübel oder sogar symbiotisch in den Töpfen der anderen Pflanzen. Durch die natürliche Begrenzung (der anderen Pflanzen) können sich die Wildkräuter dann auch nicht unkontrolliert ausbreiten und der Giersch bleibt genau dort, wo er bleiben soll.

Worauf es ankommt, ist insbesondere das Licht. Auf vollsonnigen Süd-Balkonen hat es Bärlauch zum Beispiel schwer, denn er mag es schattig und feucht. 

Diese Wildkräuter ziehen nächstes Jahr auf meinen Balkon:
Brennnessel

Standort: Halbschatten

Boden: humusreich; wächst aber fast überall 

Anzucht: im Frühjahr (bei circa 10 Grad Außentemperatur)

Gänseblümchen

Standort: sonnig und warm, im Halbschatten werden die Blüten kleiner

Boden: normale Gartenerde 

Anzucht: Juni bis Juli; Samen mit etwas Sand mischen und locker ausstreuen. 

Giersch

Standort: schattig bis halbschattig

Boden: humusartig und feucht

Anzucht: Frühjahr bis Herbst 

Gundermann

Standort: schattig bis halbschattig

Boden: nährstoffreich, feucht und lehmig 

Anzucht: am einfachsten über Ableger, von August bis Oktober

Schafgarbe

Standort: sonnig

Boden: nährstoffreich, trocken und durchlässig 

Anzucht: März bis April

Spitzwegerich

Standort: sonnig und hell, auch Halbschatten ist möglich 

Boden: nährstoffreich und feucht 

Anzucht: März bis April

Wildkräuter wachsen in ihrem eigenen Rhythmus. Dabei müssen sie sich selbst schützen. Die Bitterstoffe, die sie dafür verwenden, sind auch sehr gesund für uns.

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Achtung Berliner: Auf dem Ökomarkt Chamissoplatz in Kreuzberg findet Ihr jeden Samstag frische Wildkräuter für Eure Küche. Und gleich in direkter Nachbarschaft eröffnet im Herbst 2020 das Ladengeschäft von Annika Krause und Thorben Stieler von kruut. Dort könnt ihr heimische und lokal hergestellte Wildkräuterauszüge probieren und kaufen, euch beraten lassen und natürlich gemeinsam mit Annika – sie ist ausgebildete Pflanzenheilkundlerin – auf Entdeckungstour gehen. 

*Vorsorgliche Kennzeichnung als Werbung aufgrund von Nennungen und Verlinkung. Die Wildkräuterwanderung wurde von mir selbst bezahlt und dieser Beitrag ist unbeauftragt!